Von Martin A. Senn
In Jacques Neyrincks Krimi «Überfall im Bundeshaus» wird die gesamte Schweizer Regierung in ihrem Sitzungszimmer von Terroristen gefangen genommen. Während die sieben Bundesräte, gefesselt und jeder mit einer Ladung Dynamit unter dem Stuhl Todesängste ausstehen, berät im selben Gebäude, nur ein paar Dutzend Meter weiter, das Parlament, ob es überhaupt befugt sei, in Abwesenheit der Regierung über Lösegeldforderungen zu entscheiden. Nach allerlei weiterem Filibuster, vor allem aber mit viel Nichtstun, löst sich das Problem schliesslich von selbst. Alle Bundesräte sind wohlauf, bis auf jenen, der einen Herzanfall erlitt, und das Land ist mächtig stolz auf sich.
Neirynck, ein gebürtiger Belgier und emeritierter Lausanner ETH-Professor, war einer der originellsten Querdenker im Nationalrat; letzten Herbst, im Alter von 84 Jahren, ist er als CVP-Vertreter zurückgetreten. Sein munterer, leider nur auf Französisch publizierte Bundeshauskrimi («L’attaque au Palais fédéral») dient ihm zur Veranschaulichung einer bedenkenswerten These, zu der er in seiner langen politischen und akademischen Laufbahn gelangt ist.
Die Schweiz, glaubt er, löst ihre Probleme, indem sie sie nicht löst. Seit der Gründung des Bundesstaates im Jahr 1848 bemüht sich das Land, in die Geschichte einzugehen, indem es sich nicht auf sie einlässt. Und wird die Geschichte mal doch zu aufdringlich, wie im Zweiten Weltkrieg, dann gräbt man sich ein Loch, in das man sich verkriechen kann. General Guisan ist neben Wilhelm Tell nicht umsonst der wohl einzige Nationalheld, den die Schweizer und Schweizerinnen als solchen anerkennen.
Da der Gotthard-Basistunnel nach 17 Jahren Bauzeit diese Woche mit einer epochalen Feier nun offiziell eingeweiht ist, dürfen wir uns – bei aller Begeisterung über die grossartige bautechnische Leistung – jetzt auch fragen: Und welches politische Jahrhundertproblem wurde mit diesem bautechnischen Jahrhundertwerk ausgesessen?
Nun: Das Alptransit-Projekt hat es der Schweiz erlaubt, sich fast ein Vierteljahrhundert lang um die grossen europapolitischen Grundsatzentscheide zu drücken. Man baute schliesslich für die EU die erste Flachbahn von Nord nach Süd, das würde ja vorläufig reichen! So diente die Neat, lange bevor die erste Baumaschine am Gotthard auffuhr, als europapolitische Ersatzhandlung der EU-freundlichen Elite gegenüber der zunehmend EU-feindlichen Bevölkerung. Im Jahrhundertbau am Gotthard fand man den unbestrittenen gemeinsamen Nenner.
Doch nun ist das Harmonieprojekt fertig, und die europapolitische Grundsatzfrage ist immer noch da. Diesmal in Form der Umsetzung des Volksentscheids für die Masseneinwanderungs-Initiative, die eine Einschränkung der Einwanderung aus der EU verlangt. Wie wirkungsvoll die Strategie des Aussitzens – oder besser: des Ausbohrens – der Probleme diesmal ist, wird man bald sehen. Liessen sich die EU-Politiker durch die Feier des neuen Alpentunnels zu Zugeständnissen für eine Schweizer Sonderlösung beim Personenverkehr bewegen, dann geht das Kalkül auf. Wenn nicht, dann müssen Bundesrat und Parlament wohl doch einmal in einer europäischen Frage einen echten Entscheid fällen. Immer nur lochen geht nicht. So viele Tunnel braucht nicht einmal die Schweiz. © Basler Zeitung
Kolumne Basler Zeitung, 2. Juni 2016