Von Martin A. Senn
Den Niqab ausziehen? Nein, das könne sie nicht, nuschelte Nora Illi durch ihren Schleier zu den Polizeibeamten, die sie auf dem Wiener Stephansplatz angehalten hatten. «Dann müsste ich ja gegen das Recht verstossen.»
Die Szene stammt aus dem Facebook-Video des sorgsam inszenierten Spaziergangs durch die Wiener Innenstadt, mit dem die «Frauenbeauftragte des Islamischen Zentralrats der Schweiz» in Begleitung einiger «Schwestern» gegen das neue österreichische Verhüllungsverbot protestierte. Hundert Euro Bussgeld gabs dafür, viel Medienöffentlichkeit und ein paar Politikerforderungen nach einer Einreisesperre für die Konvertitin aus der Schweiz.
Wie immer gelang es der Wanderpredigerin des reaktionären Islams, in Talkshows voll verschleiert eine Diskussion darüber loszutreten, was der Prophet Allahs verlange und was nicht. Obwohl diese Fragen nichts daran ändern, dass im säkularen Staat das weltliche Gesetz der religiösen Vorschrift vorgeht, findet Illi stets Gesprächspartner, die sich auf diese innerislamische Debatte einlassen.
Deshalb nur so viel: Ein allgemeines Gebot für die Vollverschleierung gibt es im Islam nicht. Und dort, wo eines durchgesetzt wird, wie in Afghanistan oder im Iran, geschieht dies meist erst seit dem 19. Jahrhundert oder später. Dass sich eine Schleierpflicht nicht aus dem Wortlaut des Korans ergibt, räumen auch deren Befürworter unter den Islamgelehrten ein. Sie stützen sich deshalb auf eine weit hergeholte Interpretation und auf die zahlreichen, nicht immer über alle Zweifel erhabenen Überlieferungen. Unstrittig ist unter den Gelehrten immerhin, dass Minderjährige keinen Schleier tragen sollen; für Sklavinnen war er sogar verboten. Der Schleier war somit primär ein Mittel zur sozialen Unterscheidung, nicht zur Unterscheidung von Mann und Frau.
Die Verhüllungspflicht ist unter den islamischen Gelehrten also umstritten, auch wenn die Mehrheit sie ablehnt. Soll der säkulare Staat sich in diesem Streit auf die eine oder andere Seite schlagen? Nun, solange er dies unter der Einhaltung seiner demokratischen Regeln tut und es überdies die Gleichberechtigung von Mann und Frau gebietet, darf er das wohl. Und solange Frauen wie Nora Illi das Kopftuch als ideologisches Kampfmittel benützen, wird dies auch immer öfter geschehen.
Ganz sicher muss der Staat eingreifen, wenn minderjährige Mädchen ihren Kopf verhüllen oder einen Ganzkörperbadeanzug tragen. Denn da werden Kinder von ihren Eltern zur Ausübung islamischer Regeln gedrängt, die es nicht gibt. Zudem werden kleine Mädchen zu Sexualobjekten gemacht, die man angeblich vor Männerblicken schützen muss.
Abfinden müssen sich die Verschleierten so oder so damit, dass es hierzulande als unanständig gilt, mit jemandem zu reden und dabei sein Gesicht zu verhüllen. Wer sich über solche Gepflogenheiten hinwegsetzt, der kann bei aller westlichen Hypertoleranz nicht mit Verständnis rechnen. Wenn sich Frau Illi auf österreichischen Sendern beklagt, dass Frauen mit Kopfverhüllung auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt werden, dann ist das deshalb, wie man in Wien sagt, nur noch Schmarrn. (Basler Zeitung) Kolumne Basler Zeitung, 14. Dezember 2017