Von Martin A. Senn
Wie man lesen konnte, hat Facebook die amerikanische Unabhängigkeitserklärung als Hetzschrift zensuriert und zeitweilig gesperrt.
Das muss man sich erst einmal vorstellen. Die am 4. Juli 1776 in Philadelphia verabschiedete Unabhängigkeitserklärung der 13 britischen Kolonien Nordamerikas gilt immerhin als eines der wichtigsten Dokumente des demokratischen Staatsdenkens. Sie prägte die Gründergenerationen vieler moderner Demokratien, allen voran der schweizerischen.
Erst jetzt, 242 Jahre nach der Unterzeichnung, ist Facebook der diskriminierende Wortlaut des Dokuments aufgefallen. Dies, als ihn eine Lokalzeitung in Texas gerade zum Unabhängigkeitstag auf ihre Website aufschalten wollte. Als deren Redaktor sich über die Sperrung lustig machte, gab Facebook den Text dann wieder frei.
Was genau die künstliche Intelligenz an der berühmten Erklärung als Hetze taxierte, erfuhr das Blatt nicht. Denn anders als ein Rechtsstaat räumt der Daten-Weltkonzern den von seinen Zugriffen Betroffenen weder ein Anhörungs- noch ein Beschwerderecht ein.
Wahrscheinlich haben sich die Algorithmen einfach an das gehalten, was ihnen eingetrichtert wurde – nämlich die weit verbreitete Unsitte, die Vergangenheit nach heutigen Massstäben zu beurteilen. So gesehen hätte die Unabhängigkeitserklärung eigentlich schon lange im digitalen Rassismus-Raster stecken bleiben müssen. Immerhin ist darin die Rede von den «erbarmungslosen indianischen Wilden», die der britische König zur «Vernichtung» aller Amerikaner aufgehetzt habe.
Dass die Weissen allen anderen Rassen überlegen seien, war nicht nur in der damaligen neuen Welt unbestritten. Auch die Aufklärer im alten Europa zweifelten nicht daran. Strittig war nur, ob Weisse und Schwarze unterschiedliche Abkömmlinge desselben Menschengeschlechts seien oder ob sie von zwei unterschiedlichen Urfamilien abstammten.
Thomas Jefferson, der Hauptverfasser der Unabhängigkeitserklärung, tendierte zum zweiten. Er, der selber viele Sklaven hielt, konnte sich nicht vorstellen, dass Schwarze ebenso von Adam und Eva abstammen wie die Weissen. Was ihn allerdings nicht davon abhielt, mit seiner Haussklavin mehrere Kinder zu zeugen.
Schmälert dies den Gehalt der Unabhängigkeitserklärung? Sind die Ideen der Aufklärung weniger wert, weil Immanuel Kant, David Hume, Voltaire, und wie sie alle hiessen, nach heutigen Massstäben Rassisten waren? Oder sollten wir nicht besser dafür sorgen, dass deren Ideale heute wenigstens für alle Menschen gleichermassen gelten, solange dafür noch Zeit ist?
Auch wenn sich im Facebook-Konzern diesmal noch ein Mensch aus Fleisch und Blut fand, um die künstliche Intelligenz zu stoppen: Zufall war die Zensur nicht. Eher schon ein Vorgeschmack auf das, was einige kluge Köpfe seit geraumer Zeit voraussehen wollen: eine neue Welt, in der die künstliche Intelligenz die menschliche überflügelt hat und der Homo sapiens mit seiner verzwickten Geschichte und seiner Intuition nur noch ein Auslaufmodell sein wird. Wir können nur hoffen, dass das übertrieben ist. Kolumne NZZ Regionalmedien, 17. Juli 2018
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