Mit einem mächtigen Bundespräsidenten wäre die Schweiz besser regiert, heißt es. Aber würde sie so nicht ihr Gesicht verlieren? Von Martin A. Senn
Barack Obama ist ein international gefeierter Star. Zu Hause freilich kriegt der erste schwarze Präsident der Vereinigten Staaten kaum noch etwas hin. Millionen Amerikaner, die ihn vor einem Jahr hoffnungsfroh wählten, haben sich von ihm abgewendet. Seine Zustimmungsrate ist eine der tiefsten, die je ein amerikanischer Präsident nach dem ersten Amtsjahr hatte. Seine mit Pathos angekündigte Gesundheitsreform ist hoffnungslos blockiert.
Im Ausland Galionsfigur, im Inland Schießbudenfigur. Wie ein roter Faden zieht sich das Paradox durch die großen Demokratien. Obama, Sarkozy, Merkel, Brown – rund um den Globus kennt und schätzt man sie als verlässliche Repräsentanten ihrer einflussreichen und marktmächtigen Länder. Zu Hause aber stehen sie oft wie gefesselt an der Wand. Und oft orten ihre Anhänger die Ursachen für die innenpolitischen Blockierungen gleichermaßen in Konstruktionsfehlern der Verfassungssysteme.
Mal soll, wie in Deutschland, die Verzettelung in Kleinparteien an der politischen Blockierung schuld sein. Mal soll es, wie in Großbritannien, die archaische Aufteilung der Wahlkreise sein. Oder dann, wie in den USA, der über 200 Jahre alte Föderalismus schlechthin. Dass im Senat ein Bundesstaat wie Wyoming mit 500 000 Einwohnern gleich viel Gewicht hat wie Kalifornien mit seinen 37 Millionen, ist für viele Wählerinnen und Wähler in New York oder Los Angeles kaum nachvollziehbar. Gar nicht zu reden davon, dass 40 Senatoren, die nur gerade elf Prozent der Bevölkerung vertreten, eine Regierungsvorlage wie Obamas Gesundheitsreform blockieren können.
In der Krise kommt immer wieder der Ruf nach einer Regierungsreform
Der Ruf nach Reformen gehört in Demokratien zur Krise wie das Ei zum Huhn. Kein Wunder, dass er auch in der Schweiz besonders heftig ertönt. Denn die aktuelle Krise bohrt tief in der kollektiven Psyche der Alpenrepublik. Eine internationale, kaskadenartig aufgebaute Druckwelle gegen das Bankgeheimnis hat weit mehr als die helvetische Finanzindustrie erfasst. Sie stelle, wird behauptet, ganz grundsätzlich die Fahrtauglichkeit des bilateralen Sonderzugs der Eidgenossen in einer immer umfassender multilateral geordneten Welt infrage. Dem neutralen Kleinstaat drohe die schmerzhafte Abkehr von seinem tief sitzenden Selbstverständnis. Und dies zur Zeit einer Wirtschaftskrise, in der bis weit in den Mittelstand sogar Unternehmer sich als Opfer maßloser Bankmanager fühlen. Eine Wut auf die Finanzbranche hat sich breitgemacht, die durch die rechtsbürgerliche SVP und die Linke im publikumsträchtigen Gleichschritt verstärkt wird.
Die Schweiz ist gewissermaßen von ihrem schlimmsten Feind eingeholt worden: von der Geschichte. Und sie weiß nicht mehr weiter. Was sich über viele Jahrzehnte als identitätsstiftende Strategie bewährte – keine Kriege, keine Kolonisation, keine Allianzen –, scheint nicht mehr weiterzuhelfen und ist heftig umstritten. Die Rechthaberei, mit der die Debatte geführt wird, zeigt auf, wie tief die Ratlosigkeit tatsächlich ist.
Nur in einem sind sich fast alle einig: Schuld ist die Politik. Oder, genauer, die Regierung in Bern, weil die auch nicht weiterweiß. Der Bundesrat, so geht die wohlfeile Kritik, sei eine Gruppe aus sieben Einzelkämpfern, denen es mehr um ihr eigenes Ansehen als um eine kohärente Regierungspolitik gehe. Statt strategischer Weitsicht diktierten partikuläre, vom Hüst und Hott der Tagespolitik getriebene Interessen der Fachministerien die Traktanden des Gremiums. Von echter politischen Führung und wirkungsvollem Krisenmanagement könne keine Rede sein. Dies umso mehr, als das Bundespräsidium jedes Jahr an ein anderes Regierungsmitglied gehe. Man sehnt sich, kurz gesagt, nach einer starken Hand, die dem verunsicherten Land sagt, wo es lang geht.
Neu sind die Anwürfe nicht. Wenn das Land unter Druck steht, kommen sie regelmäßig hoch. Der Zürcher Bundesrat Jakob Dubs hatte nach seinem Rücktritt vor über 130 Jahren schon den »schweren Nachtheil« beklagt, »dass über den 7 Departementen die Einheit der Gesamtbehörde zum größten Theil verloren gegangen ist«. Neu ist allenfalls die Heftigkeit und, selbstredend, die mediale Verstärkung, mit der sich die Kritik jetzt artikuliert. Mit einer Flut von Interventionen hat das Parlament die Regierung inzwischen so weit gebracht, dass sie noch in diesem Frühjahr konkrete Reformvorschläge in eigener Sache vorlegen will. Erste Varianten liegen vor; das Justizministerium sondiert in diesen Tagen während der Frühjahrssession ihre Akzeptanz bei den Parlamentarierinnen.
Die Tempoverschärfung kommt nicht von ungefähr. Einerseits sammelt die rechtsbürgerliche SVP neuerdings Unterschriften für die Einführung der Volkswahl des Bundesrates und setzt die Behörden unter Druck. Andererseits sind die Reformkräfte im Bundesrat selber seit der Wahl des Neuenburger Liberalen Didier Burkhalter massiv erstarkt. Neben den weniger strittigen Entlastungsmaßnahmen könnte im Regierungsgremium damit sogar die Stärkung und Amtsverlängerung des Bundespräsidiums mehrheitsfähig werden.
Burkhalter, als Parlamentarier ein Wortführer der Reformer, plädiert für eine Ausdehnung des Bundespräsidiums »auf vier oder minimal zwei Jahre«. Dabei, so schwebt es ihm vor, solle das Präsidium möglichst mit dem Außenministerium gekoppelt werden. Gleiches lässt informell auch Außenministerin Micheline Calmy-Rey verlauten. Als realisierbarer, vom Parlament allenfalls noch akzeptierbarer Vorschlag steht aber lediglich die Ausdehnung auf zwei Jahre zur Diskussion. Das wäre allerdings eine Lösung nahe am politischen Alibi; eine Reform ohne wirkliche Änderung, wie manche finden. »Ein Vorschlag mit einem gewissen Charme, der aber keines unserer Probleme löst«, kommentiert etwa Franz Steinegger, der Doyen des Schweizer Freisinns. Von einer Verlängerung des Präsidiums verspricht er sich ohnehin nicht viel.
»Als kosmetischen Vorschlag« bezeichnet Moritz Leuenberger, der Amtsälteste im Bundesrat, die Forderung nach einer Ausdehnung des Präsidiums auf zwei Jahre. »Wenn wir wirklich etwas ändern wollen, müsste ein Schweizer Bundespräsident vier Jahre im Amt sein«, schreibt er in einem exklusiven Beitrag für diese Zeitung (siehe nebenstehenden Artikel auf Seite 12). »Und wenn wir dabei am Modell festhalten wollen, dass der Bundespräsident zugleich ein Departement leitet, ist praktisch nur das Außenministerium denkbar«, erläutert er den Vorschlag, den er in die Regierung eingebracht hat.
Vier Jahre lang ein und derselbe Bundespräsident? Moritz Leuenberger ist zu lange in der schweizerischen Politik, um sich Illusionen über die Realisierbarkeit dieses Vorschlags zu machen. »Erstens«, relativiert er gleich selber, »wäre dafür eine Verfassungsänderung nötig; es würde also Jahre dauern, bis der Vorschlag umgesetzt werden könnte. Zweitens ist mit großem politischem Widerstand zu rechnen. Die Romands werden zum Beispiel kaum akzeptieren, dass es immer wieder Perioden von acht oder gar zwölf Jahren geben würde, in denen die französischsprachige Schweiz keinen Präsidenten stellen könnte.«
Wohl wahr. Schon der einjährige Turnus machte die Wahl des Bundespräsidenten immer wieder zur Zerreißprobe zwischen den Sprachregionen. 1918 zum Beispiel wurde der in der Romandie als deutschfreundlich angefeindete Berner Bundesrat Eduard Müller zum Verzicht aufs Präsidium gedrängt, obwohl er als Vizepräsident tournusgemäß an der Reihe gewesen wäre. An Müllers Stelle kürte man den Genfer Gustave Ador zum Präsidenten. Ador war erst 1917 im Alter von 71 Jahren überhaupt in die Regierung gewählt worden. Zuvor hatte man ihm das hohe Amt wegen seiner Frankreichfreundlichkeit stets verweigert und sogar seinen zeitweiligen Rücktritt aus dem Nationalrat provoziert. Erst nach dem Sieg der Entente und einer bedrohlichen, internationalen Kampagne gegen die behauptete Deutschfreundlichkeit der Schweiz kam der frankophile Genfer endlich zupass.
Das wechselnde Präsidium bringt Politiker um den großen Auftritt
Verschärft wurden diese Konflikte durch die Koppelung des Bundespräsidiums ans Außenministerium. Diese Koppelung wurde Ende des 19. Jahrhunderts erstmals während einiger Jahre durchbrochen, nachdem ein Bundespräsident, der Zürcher Liberale Friedrich Hertenstein, wegen seiner fehlenden Französischkenntnisse das Außenministerium ablehnte. Dauerhaft abgeschafft wurde die Koppelung der beiden Ämter aber erst nach dem Ersten Weltkrieg, als klar wurde, welch abgrundtiefe neutralitätspolitische Wirren sie verursachen kann.
Schlecht gefahren ist das Land damit seither nicht. Das jährlich rotierende Präsidium nahm Schweizer Spitzenpolitikern zwar die Möglichkeit, sich auf der Weltbühne der großen Gesten neben all den Obamas, Sarkozys und Putins dauerhaft in Szene zu setzen. Dafür veranschaulichten die stets wechselnden helvetischen Köpfe dem Weltpublikum das wahre Gesicht der Schweiz. Jenes einer alten Demokratie, die die Macht des Einzelnen derart konsequent streut, ja sogar bricht, dass sie sogar ihr Regierungspräsidium auf sieben verschiedene Köpfe aufteilt. Nachgerade idealtypisch erfüllt die Alpenrepublik damit, was der Philosoph Karl Popper so treffend als ureigensten Zweck einer Demokratie beschrieben hat. Nämlich »die politischen Institutionen so zu gestalten, dass auch unfähige und unredliche Politiker keinen grossen Schaden anrichten können. Weiß der Teufel, was daran schlecht sein soll.
Das heißt nicht dass die Schweiz ihr althergebrachtes politisches System nicht in Frage stellen und mit andern Ländern vergleichen soll. Im Gegenteil. Reformdiskussionen, wie sie derzeit in Bern geführt werden, sind kein leeres Geschwätz. Sie zeigen, dass die Bundesräte sich nicht nur um Velohelme und Ablaufdaten von Medikamenten kümmern. Für eine Regierung, die wegen ihrer angeblichen Unfähigkeit zu strategischem Denken in der Kritik steht, ist dies ein gutes Zeichen. Man wartet mit Spannung auf die Vorschläge des Bundesrates. Das gibt es selten genug, dass eine Behörde vorschlagen muss, wie sie ihre Abläufe verbessern könnte. Das braucht immerhin das schöne Talent zur Selbstkritik.
Dann ist es auch egal, dass die Regierung bei der Diskussion wohl zum Schluss kommen wird, dass die politischen Strukturen Ausdruck des tief verankerten demokratischen Selbstverständnisses des Landes sind und sie sich mit ihnen arrangieren muss. So wie sich Obama, Brown oder Merkel mit den von ihren demokratischen Verfassungen gewollten Bremsmechanismen werden arrangieren müssen. Für die Regierenden bedeutet dies: weniger Medienauftritte und noch mehr Knochenarbeit zur Beschaffung von Mehrheiten für noch weniger spektakuläre Vorlagen. Telegen ist das nicht, zielführend hingegen schon.
DIE ZEIT, 11. März 2010