Darwin erklärte sie als sexuelles Lockmittel, andere mit dem Lausen der Affen. Es ist höchste Zeit zur Erforschung der Musikalität des Menschen, findet Martin A. Senn
Weihnachten ist vorbei. Vom Leisen, Besinnlichen kippt die Festfreude um ins Laute, Rauschhafte. Und wenn uns in der Silvesternacht Feuerwerke aus Trubel, Tanz und Tönen ins neue Jahr begleiten, dann stellt sich wieder einmal die Frage: Wieso lieben wir Menschen eigentlich Musik?Wir kennen die Atmosphäre des Mars, wir waren vor Jahrzehnten schon auf dem Mond, und wir merken, dass sich die Erde eine Sekunde zu langsam dreht. Aber wieso wir Musik mögen, das haben Heerscharen von Wissenschaftern bis heute nicht geklärt. So gravierend ist die Wissenslücke, dass ihr neulich sogar das bierernste britische Wirtschaftsmagazin «The Economist» eine grosse Titelgeschichte widmete.
Musik sei für den Menschen, was das Rad für den Pfau: ein sexuelles Lockmittel. So hatte es zunächst Charles Darwin dargelegt in seinem Werk «The Descent of Man and Selection in Relation to Sex». Es erschien zwölf Jahre nach seinem Jahrtausendwerk über die «Entstehung der Arten»).
Dass Musik eine zentrale Rolle im Paarungsverhalten der Menschen spiele, haben bis heute zahlreiche Verhaltensforscher und Evolutionsbiologen zu belegen versucht. Vieles, was sie herausgefunden haben, stärkt Darwins These von der Musik als Mittel zur Balz. Zum Beispiel, dass 40 Prozent aller Songs und Lieder von Liebe und Sex handeln, wie Forscher ausgezählt haben. Dass in der westlichen Welt Teenager einen Achtel ihrer schlaffreien Zeit mit Musik verbringen. Oder die kreischenden Groupies an Konzerten und die Popstars, die sich mit ihren unzähligen sexuellen Eskapaden brüsten.
Es gibt Fachleute, die das «Flair» fürs Musizieren zu einem Teil als vererblich erachten. Wenn dies stimmt und Musik tatsächlich ein Mittel ist, um Sexualpartner anzulocken, dann müssen Musiker vor allem in ihren biologisch besten Jahren aktiv sein. Tatsächlich ergaben Untersuchungen des Evolutionsbiologen Geoffrey Miller von der Universität New Mexico, dass die Produktivität von Jazz-, Rock- und Pop-Musikern nach der Pubertät bis ins junge Erwachsenenalter explosiv zunimmt und dann stark abnimmt.
Das leuchtet ein. Aber das ganze Geheimnis der Musik erklärt es nicht. Wieso besuchten sonst so viele Männer Konzerte von Bands, die nur aus Männern bestehen? Weil sie alle homosexuell sind? Natürlich nicht. Musik muss mehr sein als nur sexy. Über das Individuelle hinaus hat sie offensichtlich eine soziale Funktion. Sie stärkt den Zusammenhalt und das Wir-Gefühl von Gruppen. Punks haben ihre Chaos-Töne, Militärs ihre strammen Märsche, Studenten ihre bierseligen Verbindungslieder und Nationen ihre pathetischen Hymnen.
Die rührigste wissenschaftliche Theorie dazu liefert Robin Dunbar, ein Verhaltensforscher der Universität Oxford. Er sieht den Ursprung der Musik in der gegenseitigen Fellpflege der Affen und Primaten. Diese sorgsam liebevolle Tätigkeit, dem jeweils andern die Läuse aus dem Fell zu picken, Schmutz wegzukratzen und einzelne Härchen glatt zu streichen, gilt als eines der wichtigsten Mittel zur Sicherung des sozialen Zusammenhalts in der Affengruppe. Sie wird von den Tieren mit sichtlichem Genuss vollbracht und meist länger, als der praktische Zweck, die Reinigung des Fells, es tatsächlich erfordern würde.
Seine soziale Wirkung entfaltet das gegenseitige Lausen freilich nur, wenn jeder Affe in der Gruppe es mit allen andern praktizieren kann. Ab Gruppen mit mehr als 80 Mitgliedern sei dies nicht mehr möglich, hat Verhaltensforscher Dunbar entdeckt. Umgekehrt sei eine Gruppe mit 80 Mitgliedern aber noch zu klein, um eine abstrakte Kommunikationsform, also eine Sprache, zu entwickeln. Der «Sprachdruck» beginne erst ab einer Gruppengrösse von 140 Mitgliedern, wollen Linguisten festgestellt haben.
Was aber entsteht in einer Gruppe, die zu gross ist zum Lausen, aber zu klein, um eine Sprache zu entwickeln? Es muss etwas sein, das allen Mitgliedern das Gefühl gibt, sie würden sich immer noch alle gegenseitig das Fell putzen. Dunbar nennt es «Remote Grooming»: ein Art Fell-Putz auf Distanz, sozusagen ein «Fern-Lausen». Und diese Funktion, postuliert Dunbar, habe die Musik übernommen.
Natürlich gibt es zahlreiche Einwände gegen diese Theorie, wie gegen alle andern Theorien, die das evolutionäre Aufkommen der Musik zu erklären versuchen. Denn wie die Musik wirklich entstanden ist und weshalb sie auf uns Menschen dermassen stark wirkt, ist bis heute unklar. Mich laust die Oper – oder: Wieso lieben wir Musik? Dunbars Theorie hat da immerhin etwas Tröstliches. Sie erinnert uns abgehobene Erdenmenschen daran, wo wir herkommen. Und wenn wir uns in Smoking und Abendgarderobe ans Silvesterkonzert chauffieren lassen, dann sollten wir nie vergessen: Vielleicht möchten wir uns nur wieder einmal richtig lausen lassen.
© NZZ am Sonntag; 28. Dezember 2008