Russland blendet die Verbrechen von Stalin systematisch aus. Mit negativen Folgen für die Entwicklung des Landes.
Von Martin A. Senn
Dass Stalin ein «blutrünstiger Kannibale» gewesen sei, der den Terror der Geheimpolizei Tscheka nicht nur billigte, sondern ausdrücklich förderte, und dass er 1940 die Erschiessung von 20 000 polnischen Offizieren und Intellektuellen in den Wäldern bei Katyn selber anordnete – dies darf man heute in Russland zwar sagen, ohne sich strafbar zu machen. So jedenfalls befand jüngst ein Moskauer Bezirksgericht und wies eine Ehrverletzungsklage des Stalin-Enkels Jewgeni Dschugaschwili gegen die Zeitung Nowaja Gaseta ab. Das Urteil, freute sich das liberale Blatt, sei «ein erster Schritt auf dem Weg nach Nürnberg».
Doch der Eindruck trügt. In Tat und Wahrheit ist Russland so weit entfernt wie nie von einer gerichtlichen Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen in der Art, wie sie an den Nürnberger Prozessen die Nazi-Führer über sich ergehen lassen mussten. Die Entstalinisierung, angestossen noch in der Sowjetzeit durch Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow, wird seit Jahren schrittweise rückgängig gemacht. Mit der Feier von Stalins Geburtstag hatte Präsident Putin 1999 den Auftakt gegeben zu einer eigentlichen Re-Stalinisierung des Landes.
So wurden unter Putin die Archive von Armee und Geheimdiensten wieder geschlossen, die in den neunziger Jahren für die historische Aufarbeitung der Ära Stalin geöffnet worden waren. Gegen die «Verfälschung» der Geschichte wurde eigens ein Gesetz erlassen. Es stellt die Gleichsetzung von Stalin mit Hitler unter Strafe oder die Behauptung, die Sowjetunion habe 1945 die osteuropäischen Staaten nicht befreit, sondern besetzt. Mit dem Auftrag, «Geschichtsfälschungen zum Schaden der Interessen Russlands» ein für alle Mal klarzustellen – sprich: die Geschichtsversion des Kremls zur historischen Wahrheit zu erklären , hat Präsident Medwedew im Mai dieses Jahres eine Expertenkommission eingesetzt. Von den 25 Mitgliedern des Gremiums sind gerade mal drei Historiker, die andern sind hohe Funktionäre, Militärs sowie Sicherheits- und Geheimdienstler.
Kremltreue Historiker
Die Geschichte als politische Waffe also, wie zur Zeit des Kommunismus. Völlig quer steht da die Freiheit der historischen Lehre und Forschung als eine der Errungenschaften der postsowjetischen Gesellschaft. Entsprechend dreist gehen die Behörden wieder gegen Historiker vor. So durchsuchten Ende September Beamte des Sicherheitsdienstes FSB (vormals KGB) das Büro und die Wohnung von Michail Suprun, einem Geschichtsprofessor und Leiter des Instituts für russische Geschichte an der staatlichen Universität von Archangelsk. Suprun arbeitete unter anderem im Auftrag des Deutschen Roten Kreuzes an einem Buch über deutschstämmige Russen und das Schicksal deutscher Kriegsgefangener in Russland. Ermittelt wird gegen ihn wegen der «Sammlung und Verbreitung von Bürger-Daten».
Als besonders schädlich taxiert der Kreml die historische Vielfalt für die «Erziehung der Kinder zu verantwortungsvollen Bürgern Russlands». Von den 49 für den Schulunterricht staatlich zugelassenen Geschichtsbüchern hat man zwar noch keines wieder von der Liste gestrichen. Einige seien allerdings nur «in der Absicht gemacht worden, Unruhe zu stiften», grollte Medwedew Ende August im Fernsehen: «Das ist schlecht, weil die Schüler schliesslich einen Brei im Kopf haben.»
Die publikumswirksame präsidiale Schelte war eine unmissverständliche Aufforderung an die Lehrer, sich fortan an ein neues, von den zwei kremltreuen Historikern Alexander Danilow und Alexander Filippow ausgearbeitetes und mit Staatshilfe verteiltes Geschichtsbuch zu halten. Darin wird Stalin – neben Hitler immerhin der grösste Massenmörder des 20. Jahrhunderts – den Gymnasiasten als «rationaler Führer» Russlands vorgestellt. Seine Grausamkeiten werden als Schulstoff zwar nicht völlig unter den Tisch gewischt, aber als «pragmatische Instrumente zur Lösung ökonomischer Aufgaben» erläutert und verniedlicht: «Ohne sie zu rechtfertigen», wird den Schülern eingetrichtert, «kann man sagen, dass die Repressionen dazu dienten, jenen Angst zu machen, die schlecht arbeiteten.»
Auf internationaler Bühne präsentieren sich Putin und Medwedew hingegen als einsichtige Schüler der Geschichte und unermüdliche Modernisierer der Wirtschaft. Dafür werden sie in der Weltpresse oft gelobt. Doch gegen innen nutzen sie die Sehnsucht von Millionen Russen nach historischer Grösse zur Zementierung ihrer Macht. Denn der Druck zur Verklärung von Väterchen Stalin kommt tief aus der Volksseele. In einer TV-Umfrage wurde der Diktator Ende letzten Jahres zum drittbeliebtesten Russen aller Zeiten gewählt. Entsprechend gut kommt Putins Politik auf symbolischer Ebene an. Er führte die alte Nationalhymne wieder ein, feierte Stalins Geburtstag, und er duldet neuerdings die Installation von riesigen stalinistischen Wandgemälden in Moskauer Metrostationen.
Die Beschwörung alter Grösse zur Demonstration neuer Stärke war im Kalten Krieg allenfalls politisch erfolgreich. Wenn sich Russland in der globalisierten Welt behaupten will, muss es sich radikalen von seiner totalitären Vergangenheit lösen. So wie dies Deutschland nach dem Krieg tun musste. Heute ist Deutschland eine der erfolgreichsten Wirtschaftsnationen der Welt. Russland nicht.
© Die Weltwoche, 26. November 2009